Wolfram Sievers

Wolfram Sievers war ein Wissenschaftsmanager des NS-Regimes. Der am 10.07.1905 in Hildesheim geborene Sohn eines evangelischen Kirchenmusikdirektors verließ 1922 nach dem frühen Tod des Vaters als alleiniger Ernährer der Familie das Gymnasium zu Gunsten eines praktischen Berufs.1 Nach Besuch einer Handelsschule und einer Lehre als Verlagskaufmann arbeitete Sievers ab 1924 in Hannover in der Verlagsbranche.2 Nach Verlust dieser Tätigkeit wechselte er 1928 zu einem Verlag nach Stuttgart.3 Sievers schrieb sich als Gasthörer an der Technischen Hochschule Stuttgart ein und hörte Vorlesungen in Geschichte, Philosophie und Religionswissenschaft.4 Anschließend war Sievers an den Gründungsaktivitäten eines „Landeserziehungsheims Deutscher Art, Schule für ritterliche Erziehung“ beteiligt und bat brieflich „mit deutschem Gruß und Hitler-Heil“ führende Nationalsozialisten um Unterstützung.5 Nach mehrmaligem Verlust seiner Arbeitsstelle, nach Krankheit und einer Tätigkeit in der Filmbranche wurde er im April 1932 Sekretär des völkischen Privatgelehrten Herman Wirth.6 Aus Geldmangel musste Wirth ihn im Frühjahr 1933 entlassen.7 Nachdem Himmler war auf die völkischen Publikationen Wirths aufmerksam geworden war, glaubte er ihn beim Aufbau einer völkisch geprägten Kulturabteilung innerhalb der SS nutzen zu können. Nachdem Heinrich Himmler auf Wirth aufmerksam wurde und beide planten, gemeinsam eine völkische Forschungseinrichtung ins Leben zu rufen, schlug Wirth vor, Sievers zum Generalsekretär des geplanten „Ahnenerbe“ zu berufen. Bis zum Sommer 1935 war Sievers – vorübergehend oder dauerhaft – Mitglied im Deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbund gewesen, des Pfadfinderbundes, des Wandervogel, des Jungnationalen Bundes, des Kampfbundes für Deutsche Kultur, des Württembergischen Jungbauernbundes und der Artamanen.8 Er trat 1929 in die NSDAP ein, verließ die Partei kurz darauf wieder, um 1933 unter seiner alten Mitgliedsnummer 144.983 wieder einzutreten.9 Damit zählte er zu den sogenannten „Alten Kämpfern“ der NSDAP. Mit Wirkung vom 09.11.1935 trat Sievers in die SS ein.10

Sievers‘ Machtsicherung im „Ahnenerbe“

Seit Gründung am 01.07.1935 war Sievers Generalsekretär der „Studiengesellschaft für Geistesurgeschichte ‚Deutsches Ahnenerbe‘“. Nach der Satzungsänderung von 1937 hieß der Verein „Das Ahnenerbe e.V.“ und Sievers‘ Position war die eines „Reichsgeschäftsführers“. Trotz der Veränderungen an der Spitze des Vereins war von Beginn an ausschließlich Sievers im rechtlichen Sinne dessen alleiniger Vertreter, bis Himmler nach der Satzungsänderung vom 01.01.1939 in diese Position gelangte.11 Parallel wurde Sievers Geschäftsführer des Nordland-Verlages, 1934 als erstes Wirtschaftsunternehmen der SS gegründet, und blieb es bis zur Zusammenlegung mit dem Ahnenerbe-Stiftungs-Verlag im Jahre 1938.12

Ab 1937 drängten Sievers und Himmler sowohl Herman Wirth als auch den bisherigen Hauptfinanzier, den Reichsnährstand und dessen Leiter Richard Walther Darré aus dem Ahnenerbe. Die Satzung wurde entsprechend verändert. Der neue wissenschaftliche Leiter, der Indogermanist Walter Wüst (Universität München), vermittelte Sievers Kenntnisse in der Forschungsförderung, so dass es ihm fortan gelang, einen Großteil des Ahnenerbe-Haushalts über die DFG zu finanzieren.13

Sievers gründete bis Ausbruch des Krieges einige Dutzend Ahnenerbe-Forschungsstätten. Anteil und Einfluss unseriöser Forscher und Forschungsfelder – oft auf Geheiß Himmlers etabliert, um dessen Theorien wissenschaftlich zu belegen – drängte Sievers sukzessive zu Gunsten seriöser Forschungen zurück.

Nachdem der Stellvertretende Reichsgeschäftsführer, der Journalist Dr. Friedhelm Kaiser, nach Kriegsausbruch eingezogen worden war, wurde er ab 1940 von dem Juristen Dr. Theodor Komanns vertreten.14 Anfang 1941 meldete Sievers sich freiwillig zum Wehrdienst, um auch in dieser Hinsicht den Erwartungen Himmlers zu entsprechen.15 Sievers begann die Grundausbildung im Juni 1941 bei der SS-Leibstandarte.16 Nach rund sechs Wochen brach er seine militärische Ausbildung ab, da sein Stellvertreter Kaiser bei einem Autounfall tödlich verunglückt war.17 Sievers verhinderte die Berufung neuer Stellvertreter und blieb bis Kriegsende Offizier der Waffen-SS, kommandiert zum Ahnenerbe.

„Wehrwissenschaften“ des „Ahnenerbe“

Die mit nicht kriegswichtigen Forschungen – wie Sammeln von Volksliedern oder Hausmarken – befassten Wissenschaftler drohten dauerhaft eingezogen zu werden, weshalb Sievers um die Existenz seiner Einrichtung fürchtete. Daher implementierte er ab Mitte 1941 neben Geistes- und Naturwissenschaften die „Wehrwissenschaften“ in das Ahnenerbe. So gründete er zunächst das Entomologische Institut, in dem jene Insekten beforscht werden sollten, die Krankheiten übertragen. Kurz darauf gründete Sievers das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung (IWZ) als neuen Schwerpunkt seiner Arbeit. Es inkorporierte ab Sommer 1942 das Entomologische Institut. Die Forschungen des Straßburger Anatomen August Hirt zur Intravitalmikroskopie und zu flüssigem Lost wurden als Abteilung H eingegliedert. Die Versuche mit dem chemischen Kampfstoff Lost an fünfzehn Häftlingen endeten in drei Fällen tödlich. Diese – und andere – Versuche erfolgten unter der Direktion von Sievers. Er war nicht formal, wohl aber faktisch der verantwortliche Direktor des IWZ.

Im Jahre 1942 wurde für den Mediziner Sigmund Rascher im IWZ die Abteilung R geschaffen, wo er parallel zu seinen Forschungen für die Luftwaffe an Häftlingen eigene Experimente durchführte. Die Quellen zeigen eine Distanz Sievers‘ zu den Luftwaffenversuchen und zur Person Rascher. Anderen Projekten aus Raschers Abteilung –Erfindungen seiner Funktionshäftlinge – stand Sievers sehr offen und fördernd gegenüber. Zwangsversuche an Häftlingen wurden für diese Erfindungen nicht benötigt. Es handelt sich um Rostschutzmittel, Instant-Kartoffelbrei und das Blutstillmittel Polygal. Sievers plante weitere Abteilungen wie etwa die Mathematische Abteilung oder die Abteilung für Züchtungsforschung, die zum Teil erst in den letzten Kriegswochen die Arbeit aufnahmen.

Obschon das Ahnenerbe am 17.03.1942 als „Amt A“ in den Persönlichen Stab RFSS implementiert und Sievers dort Hauptabteilungsleiter wurde – der Verein Ahnenerbe bestand bis 1955 rechtlich weiter – müssen seine zahlreichen Aktivitäten außerhalb der SS betrachtet werden.18 Von 1939 bis 1941 als Generaltreuhänder für die Sicherstellung deutschen Kulturguts in der Haupttreuhandstelle Ost am Kulturgutraub beteiligt; von 1940 bis 1944 Leiter der Kulturkommission bei der amtlichen Ein- und Rückwandererstelle Umsiedlung Südtirol. Als Leiter dieser Kulturkommission versuchte Sievers 1941, die Aktivitäten des Ahnenerbes auf die Umsiedlung der Volksdeutschen aus Bessarabien, Wolhynien und Galizien auszudehnen.19 Im Jahre 1943 wurde er stellvertretender Leiter des Geschäftsführenden Beirates im Reichsforschungsrat berufen, der bedeutendsten Organisation der Forschungsförderung im „Dritten Reich“. Aufgrund dieser Position ließ er sich von Admiral Canaris, Leiter der Abwehr in der Wehrmacht, zum Abwehrbeauftragten des Reichsforschungsrates bestellen, was ihm Zugang zu allen geheimen Forschungsprojekten ermöglichte. Zudem wurde er in die exklusive Wehrforschungsgemeinschaft berufen, was ihm weiteren Überblick und Einfluss verschaffte.20 Hierdurch konnte er etwa die Einbindung des IWZ in die B- und C-Waffenentwicklung erreichen. Bis Ende des Krieges war Sievers einer der prominentesten Netzwerker in der Wissenschaftslandschaft des Regimes.

An Ehrungen hatte es nicht gefehlt. Im Jahre 1942 erhielt er das Ritterkreuz des Ordens „Isabella die Katholische“, sowie das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern, dem 1944 die I. Klasse mit Schwertern folgte.21 Er war Träger von Ehrenwinkel, Ehrendolch, Ehrendegen und Totenkopfring der SS.22 Die Beförderung zum hohen Rang eines SS-Oberführers sollte per 20.04.1945 erfolgen.23 Sie kam nicht mehr zustande, da die 1943 nach Waischenfeld in Franken verlegte Ahnenerbe-Zentrale am 14.04.1945 von der US-Army überrollt und Sievers am 01.05.1945 verhaftet wurde.

Nachdem Sievers im Nürnberger Ärzteprozess angeklagt worden war, versuchte sein langjähriger Mentor Friedrich Hielscher, ihn als Angehörigen des Widerstandes hinzustellen. Wenngleich Unklarheiten bestehen, dürfte er keinen aktiven Widerstand geleistet haben. Belegt sind jedoch u.a. seine Unterstützung für Oppositionelle aus dem Umkreis des Solf-Kreises und Informationsweitergabe an Gruppen, die Juden schützten.24 Er stellte ebenso Mitarbeiter im Ahnenerbe an, die von den NS-Behörden beargwöhnt oder sogar verfolgt wurden.25

Wolfram Sievers der „Wissenschaftsmanager“

Sievers verstand selbst sich nicht als Wissenschaftler, sondern als Wissenschaftsmanager.26 Sein Handeln bis zur beginnenden Emanzipation von SS und Himmler ab Ende 1943 ist ein Beispiel für „dem (Reichs-)Führer entgegen arbeiten“27. Sievers hat um der Karriere willen nie offen gegen Himmler opponiert. Nach planmäßigem Auslaufen der Humanversuchsreihen bei Hirt und dem Ausscheiden des Himmler-Protegés Rascher ab Frühjahr 1944 fanden jedoch keine Humanversuche unter Sievers‘ Verantwortung mehr statt, auch wenn diese ursprünglich von Himmler befohlen waren. Sievers hat seit Kriegsbeginn in zwei Bereichen aus eigener Initiative NS-Tötungsverbrechen forciert: Die Lost-Versuche von Hirt und die „Straßburger Schädelsammlung“ von Bruno Beger. Für diese Verbrechen wurde Wolfram Sievers in Nürnberg zum Tode verurteilt und am 02.06.1948 in Landsberg hingerichtet.

Sievers war seit November 1934 mit Helene Siebert verheiratet und hatte mit ihr drei Kinder. 1944 wurde er Vater eines unehelichen Sohnes. Dessen Mutter, Sievers‘ Sekretärin, lebte mit der Familie unter einem Dach. Zeitzeugen betonen Sievers‘ Religiösität, seine Fürsorglichkeit gegenüber Mitarbeitern, das harmonische Familienleben und seine Musikalität. Sievers spielte u. a. Cello und Clavichord.

Wolfram Sievers war mit seinem durch mit Organisationsgeschick und Fleiß, mit Opportunismus und Ehrgeiz typischer Vertreter der „Generation des Unbedingten“.28 Als „Prototyp des neuen Schlages der Schreibtischmörder“ stand er in einer Reihe mit einem Adolf Eichmann.29

Quellen

  1. BArch NS 21/694 Personalakte Sievers, Erklärung ohne Datum.
  2. BArch SSO 127 B Personalakte Sievers, Zeugnis der Firma Berthold Pokrantz vom 15.10.1928.
  3. BArch SSO 127 B Personalakte Sievers, Zeugnis des Industrieverlages vom 31.12.1930.
  4. Kater, Michael: Das „Ahnenerbe“ der SS 1935-1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1974, S. 28.
  5. BArch R9361-I-51356, Schreiben von Sievers an Walter Buch vom 12.08.1932 und Antwort Buch ohne Datum.
  6. BArch SSO 127 B Personalakte Sievers, Zeugnis der Kling-Film GmbH vom 20.04.1942.
  7. Schmidt, Hielscher, S. 246.
  8. BArch SSO 137 B Personalakte Sievers, Lebenslauf vom 24.10.1934, Lebenslauf nach dem 06.02.1944, Zeugnis des Württembergischen Jungbauernbundes vom 26.06.1933. Vgl. Kater, Ahnenerbe, S. 29 und S. 367.
  9. BArch NS 21/30, Lebenslaufformular vom 01.10.1938. Dort gab Sievers als Eintrittsdatum den 01.09.1928 an.
  10. BArch SSO 137 B Personalakte Sievers, Beförderungsvorschläge ohne Datum, Zeitraum zwischen 31.01.1933 undv18.10.1944.
  11. Vgl. BArch DS G 138 Personalakte Sievers, Lebenslauf nach dem 06.02.1944.
  12. Vgl. BArch NS 21/30, Lebenslauf Sievers vom 01.10.1938.
  13. Amtsgericht Charlottenburg von Berlin, Vereinsregister, 95 VR 7996.
  14. BArch RS F 5322 Personalakte Sievers, Schreiben von Dr. Alfred Mischke an Sievers vom 26.08.1938.
  15. BArch NS 21/28, jährliche Bewilligungsschreiben der DFG an die Ahnenerbe-Stiftung.
  16. BArch NS 21/567, Prüfbericht des Wirtschaftsprüfers Dr. Hohmann vom 31.03.1940, BArch BDC SSO 149 A; Kaiser, Beförderungsbericht vom 02.03.1939, BArch BDC RS D 134; Komanns, Personalbogen ohne Datum, jedoch erstellt zwischen 01.01.1940 und 15.06.1940, sowie Aufnahmebestätigung ohne Datum, handschriftlich unterfertigt vom Leiter des SS-Personalhauptamtes, Schmitt.
  17. BArch DS G 138 Personalakte Sievers, Schreiben Sievers an Himmler. 03.04.1941.
  18. BArch NS 21/127 Diensttagebuch Sievers. 16.06.1941.
  19. BArch NS 21/127 Diensttagebuch Sievers, 23.07.1941.
  20. BArch SSO 137 B Personalakte Sievers, Schreiben Himmler an Sievers, 08.08.1942.
  21. BArch DS G 138 Personalakte Sievers, Schreiben Sievers an VoMi, 08.04.1941.
    Folder 26, Box 24, Samuel A. Goudsmit papers. Niels Bohr Library & Archives, Vorblatt und Liste der Mitglieder der Wehrforschungsgemeinschaft des Reichsforschungsrates, S. 27 ff.
  22. BArch SSO 137 B Personalakte Sievers, Schreiben vom Persönlichen Stab, Hauptabteilung Orden und Gäste an Sievers, 20.03.1943, mit Annahmegenehmigung bzgl. des Spanischen Ordens; BArch DS G 138 Personalakte Sievers, Lebenslauf nach dem 06.02.1944; BArch SSO 137 B Personalakte Sievers, Verleihungsurkunde mit Unterschrift Himmlers, 30.01.1944.
  23. BArch DS G 138 Personalakte Sievers, Lebenslauf nach dem 06.02.1944.
  24. BArch SSO 137 B Personalakte Sievers, Schreiben von Brandt an v. Herff, 18.10.1944.
  25. Schmidt, Hielscher, S. 252.
    Ärzteprozess, S. 5838, Vernehmung Sievers vom 11.04.1947 mit Verweis auf Sievers-Exhibit Nr. 29 vom 21.01.1947. Vgl. IfZ ZS A 0025 01-462 Sammlung Michael H. Kater (“Ahnenerbe“), Gedächtnisprotokoll des Gespräches von Kater mit Herbert Jankuhn vom 14.05.1963, S. 183 f.
  26. Kater, Ahnenerbe, S. 307.
  27. Die Mechanismen, die Ian Kershaw in seiner Hitler-Biographie als „dem Führer entgegen arbeiten“ definierte und Bernhard Gotto für die Ebene der Gauleiter im Wesentlichen bestätigte, fanden parallel auf der nachgelagerten Ebene von Persönlichem Stab und Ahnenerbe statt.
  28. Vgl.: Wildt, Michael: Generation des Unbedingten, Hamburg, 2002.
  29. Stangneth, Bettina (Hg.): Avner Werner Less: Lüge! Alles Lüge! Aufzeichnungen des Eichmann-Verhörers. Rekonstruiert von Bettina Stangneth, Hamburg 2012, S. 222.