Henri Henripierre

Henri Henripierre – der Urheber der Information, Hirt habe in Straßburg ein Museum geplant, um darin Skelette toter Juden auszustellen. Ein Auszug aus dem Buch:

Eine der Schlüsselpersonen bei der bislang bekannten Nachkriegsperspektive auf das Verbrechen der Schädelsammlung ist ein Mitarbeiter der Anatomie in Straßburg: Henri Henripierre.[1] Daher ist es erforderlich zu prüfen, inwieweit Henripierres Aussagen tatsächliche Ereignisse neutral wiedergaben oder ob er möglicherweise doch eigene Interessen verfolgte und seine Rolle in Bezug auf das Verbrechen und seine Tätigkeit für Hirt durch Falschinformationen über die Ereignisse nicht wahrheitsgemäß darstellte.

Die Person, die unter dem Namen Henri Henripierre durch ihre Aussage im Nürnberger Ärzteprozess am 18.12.1946 erstmals einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde, kam in Leberau im deutschen Reichsland Elsass-Lothringen zur Welt. In dieser Stadt im sogenannten Silbertal im Oberelsass, die heute Lièpvre heißt, wurde er am 23.8.1905 unter dem Namen Heinrich Sigrist als unehelicher Sohn von Rosalie Sigrist geboren. Erst später bekannte sich der Elektrizitätsarbeiter Heinrich Henrypierre vor seinem örtlichen Standesamt in Leberau zur Vaterschaft. Dies bekräftigte Heinrich Henrypierre mit seiner Unterschrift. Daraufhin wurde die Namensänderung in die Geburtsurkunde eingetragen, und Heinrich Sigrist hieß fortan Heinrich Henripierre.[2] Im Jahre 1908 zog Henripierre nach Markirch im Elsass, das heutige Sainte-Marie-aux-Mines. Dort ging Henripierre zur Volksschule, wo er die spätere Köchin Augustine Renée Germaine Lirot[3] kennenlernte. Auf der Suche nach Arbeit zogen die beiden 1928 nach Paris. Henripierre arbeitete im Jahre 1930 bei der „Assistance Publique“, der 1849 geschaffenen Einrichtung, die die Krankenhäuser von Paris betrieb.[4] Am 5.5.1939 heirateten Augustine Lirot und Henri Henripierre in Paris.[5]

Henri Hernipierre und der Nürnberger Ärzteprozess

Die Aussage von Henripierre im Nürnberger Ärzteprozess ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert.[6] Henripierre gab zunächst an, in Straßburg zu wohnen. Er sei von den Deutschen in Paris verhaftet worden und ins Konzentrationslager Compiègne verbracht worden. Dort gab es jedoch kein Konzentrationslager. Mutmaßlich meinte er das in der Nähe von Compiègne gelegene Durchgangslager für Kriegsgefangene in Royallieu. Dann habe er vor einer Kommission höherer SS-Offiziere erscheinen müssen, die ihm erklärten, er müsse bis zum 6.6.1942 in seine Heimat zurückgehen, wenn er nicht wolle, dass seine Angehörigen vertrieben würden. Auch auf dezidierte Rückfrage gab Henripierre an, dass er überhaupt nicht wisse, warum ihn die Deutschen verhaftet hätten. Wenn Henripierre als Widerstandskämpfer verhaftet worden wäre, hätte er dies in Anbetracht des Heldenstatus der Résistance in Nürnberg gewiss angegeben. Dies ist jedoch in Anbetracht der bekannten Quellen wenig glaubhaft. Ein Archivfund klärte den wahren Sachverhalt auf:

Abb. 21: Umsiedlungsantrag Henri Henripierre vom 17.7.1941, S. 2 (Ausschnitt). (Quelle: BArch R 9361 IV-751)

Die Außenstelle Paris der von der SS geführten Einwanderungszentrale (EWZ) entschied, welche französischen Staatsangehörigen „deutschen Blutes“ waren, nach Deutschland umsiedeln durften und Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten. Dies geschah allerdings nur, wenn dies ausdrücklich beantragt wurde. Die Antragsteller mussten hierzu ein Formular ausfüllen und sich anschließend einer Prüfung auf vier Feldern unterziehen: einer gesundheitlichen und erbbiologischen Prüfung, einer Eignungsprüfung, einer Prüfung durch einen Volkstumssachverständigen und einer sicherheitspolizeilichen Prüfung.

Am 17.7.1941 gab Henri Henripierre – der seinen Namen handschriftlich in dieser Schreibweise durch Unterschrift bestätigte – das Antragsformular bei der EWZ in Paris ab. Damals wohnte er in Paris im XVIII. Arrondissement, 221, rue Championnet. Er wies sich allein mit seinem französischen Militärentlassungsschein aus und beantragte, nach Straßburg ziehen zu dürfen. Ein anderes Ausweispapier legte er nicht vor. Er gab an, väterlicherseits und mütterlicherseits deutscher Abstammung zu sein und sich zum Deutschtum zu bekennen. Diese Erklärung gab er auch für seine Frau ab[7]. Weiter gab er an, vom April bis August 1940 als Infanterie-Soldat der französischen Armee in Montluçon in der Auvergne gedient zu haben. Der den Antrag aufnehmende Mitarbeiter der EWZ vermerkte weiter: „Antragsteller und Ehefrau sprechen gut deutsch. Sohn spricht nur französisch. Eltern des Antragsstellers leben im Elsaß, siehe Meldeblatt. Mutter und Schwester der Ehefrau leben im Elsaß, siehe Meldeblatt.“ Den Antrag unterschrieb der Antragsteller – nachdem er im Formular als Namen Henri Henripierre angegeben hatte – mit „Heinrich Henripierre“.[8]

Anschließend erschien Henripierre tatsächlich – wie in Nürnberg geschildert – vor einer „Kommission von höheren SS-Offizieren“. Diese waren die Prüfer bezüglich der vorgenannten vier Felder. Sie bewilligten ihm in der EWZ mit der Ausstellung der „Schlussverfügung I“ den Zuzug nach Deutschland und stellten die deutsche Staatsbürgerschaft schriftlich in Aussicht.[9] Hierüber erhielt Henripierre am 10.9.1941 den entsprechenden Bescheid. Dieser gestattete ihm – unter dem Namen Heinrich Henrypierre – den Zuzug in das deutsche Elsass, wo er von den dortigen Behörden wegen der Erteilung der deutschen Staatsbürgerschaft Bescheid erhalten würde. Ausdrücklich wurde vermerkt, dass ihm der Zeitpunkt, an dem er umsiedeln dürfe, noch bekanntgegeben würde.[10]

Das Dokument zeigt unzweifelhaft, dass Henripierre die deutsche Staatsbürgerschaft anstrebte. Dieser Umstand war geeignet, ihn bei Bekanntwerden nach dem Kriege in Schwierigkeiten zu bringen. Da die spätere Beschäftigung im öffentlichen Dienst des Deutschen Reiches die Staatsbürgerschaft in der Regel voraussetzte, darf deren erfolgte Erteilung als sehr wahrscheinlich gelten.

Abb. 22: Ausschnitt aus der Schlussverfügung mit dem Hinweis auf die deutsche Staatsbürgerschaft vom 10.9.1941. (Quelle: BArch R 9361 IV-751)

Da Henripierre bei der Antragstellung offenkundig nur den französischen Militärentlassungsschein vorgelegt hatte, nicht jedoch seine Identitätskarte oder – so vorhanden – seinen Reisepass, steht die Frage im Raume, ob er im Jahre 1944 oder 1945 seine Staatsbürgerschaft abermals wechselte oder den französischen Behörden verschwieg, dass er Deutscher geworden war.

Henripierre gab als Zeuge im Ärzteprozess weiter an, er sei im Juni 1942 nach Straßburg gegangen, um sich dort eine Arbeit als Apotheker zu suchen. Henripierre war im Jahre 1928 im Alter von 23 Jahren nach Paris gezogen und hatte nach eigenen Angaben nie woanders gelebt hatte als in Leberau, Markirch und Paris. Im Jahre 1930 war er bereits in einem Klinikum in Paris angestellt. Daher muss offen bleiben, wo und wann er das mehrjährige Studium zum Apotheker absolviert haben kann, das Voraussetzung zum Berufstätigkeit des Apothekers gewesen wäre, die er im Ärzteprozess angab. Im Prozess berichtete Henripierre weiter, er habe sich an das Städtische Krankenhaus – wohl das Bürgerspital – gewandt, um dort eine Tätigkeit in der Apotheke zu finden. Da dort keine Stelle frei gewesen sei, habe man von Seiten der Apotheke bei Hirt angerufen und gefragt, ob er noch immer einen Angestellten benötige. Henripierre habe sich dann bei Hirt beworben, der ihn zum 20.6.1942 als Sektionsgehilfen angestellt habe.[11] Ungeklärt ist, ob sich die plötzliche Einstellung Henripierres wie geschildert ereignet hat oder er sich – ähnlich wie sein Kollege, der elsässische Anatomie-Mitarbeiter Wagner – gezielt beworben hat und dies vor dem Nürnberger Gericht mit der Angabe von dem sich zufällig ergebenden Arbeitsverhältnis verschleiern wollte.

Im Rahmen der Germanisierungsmaßnahmen des Gauleiters Robert Wagner wurde die „Verordnung über die deutsche Namensgebung vom 15.1.1943“ für die Bewohner des Elsass erlassen. Träger französisch klingender Namen wurden gezwungen, diese in deutsch klingende Namen zu ändern.[12]

Henripierre und die Namensänderung

Doch noch weit vor dem Erlass dieser Verordnung beantragte Henripierre eine Namensänderung. Daraufhin verfügte der Polizeipräsident von Straßburg am 21.12.1942, dass der Nachname Henripierres in Heinzpeter geändert werde. Dies wurde am 17.3.1943 in die Geburtsurkunde Henripierres im Standesamt von Leberau eingetragen. Es kann daher keinen Zweifel geben, dass der Zeuge, der im Nürnberger Ärzteprozess als Henri Henrypierre im Protokoll steht, identisch ist mit Heinrich Heinzpeter.[13] Die Quellen liefern keinen Hinweis, dass Henripierre sich nach dem Krieg mit Hinweisen oder gar Belegen bezüglich einer Zwangseinbürgerung zu entlasten suchte. Es steht daher die Annahme im Raume, dass er freiwillig und ohne Zwang den Entschluss fasste, Staatsbürger des Deutschen Reiches unter seinem „Führer und Reichskanzler“ Adolf Hitler werden zu wollen.

Abb. 23: Namensänderungseintrag vom 17.3.1943 in der Geburtsurkunde von Henripierre vom 24.8.1905. (Quelle: Archiv Mairie Lièpvre, Geburtsurkunde Nr. 36)

Es ist in den Quellen nicht genau nachzuvollziehen, ab wann genau Henripierre auf der Gehaltsliste des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung der Waffen-SS stand. Es war nach der Eroberung Straßburgs durch die Alliierten für die Verwaltung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung unklar, wie mit den Forschungsbeihilfen für jene Mitarbeiter Hirts verfahren werden sollte, die in Straßburg in Gefangenschaft gerieten: Seepe, Bong und Heinzpeter.[14] Forschungsbeihilfen waren ein monatlich von der SS gezahltes zusätzliches Gehalt neben dem regulären Einkommen aus dem jeweiligen Arbeitsvertrag.

Am 21.12.1944 fragte das Ahnenerbe beim Persönlichen Stab Himmlers an, ob die eingegangenen Forschungsbeihilfen für Seepe, Wimmer, Heinzpeter, Meyer und Bong aufbewahrt werden sollten, bis deren Verbleib geklärt sei.[15] Am 1.2.1945 teilte die Ahnenerbe-Verwaltung mit:

„Die Herren Otto Bong und Heinrich Heinzpeter sind in Gefangenschaft geraten, so dass auch hier die Stornierung der Forschungsbeihilfen vorzunehmen ist.“[16]

Es wurde abgewartet, ob und wann Bong und Henripierre aus der Gefangenschaft entlassen werden würden. Am 13.3.1945 listete die Verwaltungsleiterin des Ahnenerbes, Anneliese Deutschmann, alle Mitarbeiter des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung auf, die noch Anspruch auf eine Forschungsbeihilfe hatten:

Abb. 24: Schreiben des Ahnenerbes vom 21.12.1944, das keine Zweifel daran lässt, dass Heinzpeter/Henripierre Mitarbeiter des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung war. Auf den maschinengeschriebenen Bogen wurde handschriftlich in Kürzeln notiert: „Termin 10.2.1945 Wiedervorlage“ mit Handzeichen Charlotte Heydel. „G/H/6“ Archivierungsnummer beim Ahnenerbe: G=Geheimsachen, H=Abteilung Hirt, 6 Ablagegruppe 6. Das Kreuz vor dem Namen Wimmers mit dem Fortsetzungskreuz über dem Text bedeutet: „Dr. Wimmer ist doch zur Zeit bei der Luftwaffe. Gez. Sievers.“ (Es ist zu beachten, dass Henripierre als ungelernte Kraft eingestellt war und die damaligen Gehaltsunterschiede zur „einfachen“ Tätigkeit der jungen Sekretärin Seepe oder zum Oberpräparator Bong mit langer Berufserfahrung, insbesondere aber zu Akademikern wie Wimmer in dieser Weise üblich waren.) (Quelle: BArch NS 21/29, Schreiben von Deutschmann an Persönlichen Stab vom 21.12.1944)

Letztendlich kommt es aber auch nicht darauf an, seit wann Henripierre auf der Gehaltsliste des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung stand. Der Umstand an sich machte ihn nicht zu einem neutralen Zeugen, da er massive Eigeninteressen dergestalt hatte, nach dem Krieg seine eigene Rolle in Hirts Institut zu verschleiern.

Abb. 25: Aufstellung aller Mitarbeiter[17] , die am 13.3.1945 noch Forschungsbeihilfen bezogen, mit handschriftlichen Vermerken der Verwaltungsführerin des Ahnenerbes, Anneliese Deutschmann. (Quelle: BArch NS 21/29)

Zahlreiche Elsässer zogen nach der deutschen Besetzung Frankreichs in den unbesetzten Teil des Landes, auch Zwangseinbürgerungen kamen vor.[18] Henripierre hingegen stellte einen Einbürgerungsantrag ins Deutsche Reich, strebte die Anerkennung als Deutscher an und bekannte sich dabei schriftlich zum deutschen Volkstum. Er zog von Paris nach Straßburg – und damit in das Gebiet des Deutschen Reiches – und schloss dort einen Arbeitsvertrag. Er war nicht nur ziviler und freiwilliger Mitarbeiter des SS-Offiziers Hirt, sondern leistete einen erheblichen Tatbeitrag zum Verbrechen der Schädelsammlung, unter anderem durch Fixierung der Leichen und deren spätere Vernichtung. Er bezog zudem nach einiger Zeit der Betriebszugehörigkeit eine monatliche Forschungsbeihilfe vom Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung und somit von der SS. Noch ein halbes Jahr nach der Eroberung Straßburgs durch die Alliierten Ende November 1944 wurde er auf den Gehaltslisten der SS geführt. Henripierre hatte nach der Befreiung Frankreichs erlebt, in welch aufgeheizter Stimmung Kollaborateure gejagt und teilweise von Lynchmobs hingerichtet wurden.

Nach dem Kriege stand er als freiwilliger Mitarbeiter des mörderischen Naziarztes Hirt in Straßburg im Jahre 1945 vor der Untersuchungskommission des Richters am Ständigen Militärgerichtshof des 10. Militärbezirks in Straßburg, Major Jadin.[19] Dieser hatte am 9.7.1945 eine Untersuchung der Vorgänge in der Anatomie Straßburg beauftragt.[20] In diesem Bericht, der am 15.1.1946 fertiggestellt wurde, ist erstmals die Behauptung festgehalten worden, dass die 86 Opfer für ein Museum bestimmt gewesen seien:

„Des soins particuliers furent pris pour leur conservation, car ils devaient être transformés en pièces anatomiques destinées à enrichir le musée d’anatomie (Henrypierre).“[21]

Die französischen Ermittlungen

Die französischen Ermittler waren demnach unzweifelhaft von Henripierre über den angeblichen Museumsplan informiert worden. Dies ergibt sich aus dem Eintrag aus der Ermittlungsakte vom 23.12.1945, ausweislich derer – in der nachstehenden Reihenfolge – gegen Henripierre, Hirt, Bong und Seepe ermittelt wurde. In dieser Akte ist auch festgehalten, dass Henripierre alle Häftlingsnummern der 86 Opfer preisgegeben hatte.[22] Die erstmalige Erwähnung eines so monströsen Projekts wie jenem eines Museums zur öffentlichen Zurschaustellung von sterblichen Überresten von Juden ist in diesem Vernehmungszusammenhang bemerkenswert. Es wäre interessant zu erfahren, ob der Bericht Henripierres zu dem geplanten Museum der Universität mit dem Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung abgesprochen war, nachdem die Alliierten das Verbrechen am 3.1.1945 bekannt gemacht und Hirt kurz darauf Stellung bezogen hatte.[23] Denn zu diesem Zeitpunkt stand Henripierre immer noch auf der Gehaltsliste dieses Instituts.

Im Mai 1945 hielt sich Henripierre mit Gewissheit wieder in Straßburg auf: Der zuständige Standesbeamte trug ein, dass Augustine Lirot und Henri Henrypierre am 4.5.1945 in Straßburg geschieden wurden. Die Scheidung war bereits zwischen dem 14.3. und 6.7.1944 verhandelt worden und wurde nun von dem französischen Gericht bestätigt.[24] Am darauf folgenden Tage, dem 5.5.1944, heiratete Henri Henripierre Anne-Marie Dollet.

In der Vernehmung im Ärzteprozess wurden augenscheinlich einzelne Silben nicht korrekt mitstenographiert. So heißt es beispielsweise im Protokoll, Henripierre habe angegeben, in Lievres geboren zu sein statt in Lièpvre.[25] Die Möglichkeit, dass sich bei der Stenographierung Fehler eingeschlichen haben könnten, wird durch die Aussage des Vorsitzenden Richters erhärtet, Henripierre möchte langsamer sprechen.[26] Kurz darauf schilderte der Zeuge Henripierre eine Begegnung mit Hirt während der Anlieferung der 30 Frauenleichen. Spontan soll Hirt gesagt haben: „Peter, wenn Du die Schnauze nicht halten kannst, kommst Du auch dazu.“[27] Damit drängt sich die Frage auf, warum vor einem alliierten Gericht der Zeuge mit dem zuvor angegebenen Namen Henri Henripierre selbst aussagte, dass Hirt ihn mit „Peter“ angesprochen habe. Ein Stenographiefehler mag das ungewöhnliche Wort „Heinzpeter“ sein, das nur als „Peter“ verstanden wurde. Die Tatsache, dass Henri Henripierre bekanntermaßen unter den Namen Heinzpeter für die SS arbeitete, wird weiter erhärtet durch ein Schreiben des Generalstaatsanwalts beim Landgericht Frankfurt an das Tribunal Grande Instance de Strasbourg vom 20.4.1967. Dieser wollte Henripierre als Zeugen im Strafverfahren gegen Bruno Beger laden. Gesucht wurde: „Der frühere Anatomist Henri Henripierre (Heinzpeter), geboren am 28.8.1905 in Lievres, letzte hier bekannte Anschrift: Straßburg, 14, Rue des Lail; Henripierre war seit 20.6.1942 Angestellter beim Anatomischen Institut in Strasbourg.“[28]

Abb. 26: Protokoll der Vorladung zum Beger-Prozess vom 27.10.1970. (Quelle: HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34160 Prozessakte Beger )

Die französische Behörde stellte keinerlei Fragen zur Benennung des Zeugen mit zwei Namen durch die deutsche Behörde und teilte die Adresse des Gesuchten mit. Dabei ist die amtliche Schreibweise des Namens festzuhalten, die nicht Henry Henrypierre lautete: „Henripierre Henri, né le 23 AOUT 1905 á Lièpvre (Haut-Rhin) domicilié au STRASBOURG (Bas-Rhin), 11, rue de Rotterdam.“[29] Es bestehen auch aus diesem weiteren Grunde keine Zweifel daran, dass Henri Henripierre – auch Henrypierre – identisch mit Heinrich Heinzpeter war, der Mitarbeiter und Forschungsbeihilfenempfänger des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung des Amtes A des Persönlichen Stabes Reichsführer-SS war, wie das Ahnenerbe seit dem 17.3.1942 offiziell hieß.[30]

Einen weiteren Hinweis auf die belegte Tatsache, dass Henripierre auf der Gehaltsliste der SS stand, lieferte der französische Medizinprofessor Christian Champy in einer eidesstattlichen Aussage am 25.5.1945:

„Als die Franzosen nach dem Abzug der Deutschen in Strassburg einzogen, erfuhren sie, dass es eine wissenschaftliche Organisation an der Fakultät in Strassburg gab, die ständig mit dem Lager Struthof in Verbindung stand. Alle Mitglieder dieser Organisation, vom Doktor HIRTH, der die Leitung hatte, bis zum Jungen des Laboratoriums, gehörten den Formationen der SS an.“[31]

Dabei handelte es sich um eine Übersetzung, die naturgemäß auch Übersetzungsfehler beinhalten kann. Dies bezieht sich einerseits auf die Begrifflichkeit des Angehörens. Es ist anzunehmen, dass ein französischer Mediziner nicht mit den Feinheiten der SS-Mitgliedschaft – der fördernden Mitgliedschaft, der Ehrenführerschaft, dem Sold der Waffen-SS, der Festanstellung bei der SS und dem Empfang einer Forschungsbeihilfe von der SS – vertraut war. Es ist daher naheliegend, dass Champy annahm, dass eine monatliche Zahlung von der SS an einen Institutsangehörigen von Hirt bedeutete, dass dieser „den Formationen der SS“ angehört. Ein weiteres Beispiel für nachvollziehbare Unschärfen ist der französische Begriff „Garçon“. Dieser bedeutet nicht nur Junge – über einen solchen Laborjungen verfügte Hirt nicht. Das Wort kann auch mit „Gehilfe“ übersetzt werden. Da Henripierre als ungelernter Mitarbeiter in der Sektion häufig als Sektionsgehilfe bezeichnet wurde, ist davon auszugehen, dass er es war, den Champy als „garçon de l’Institut d’Anatomie“ bezeichnet hatte. Dies wird bestätigt durch den „Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade“ vom 15.1.1946, in dem Henripierre als „garçon de l’Institut d’Anatomie“ bezeichnet wird.[32] In den Ermittlungsakten der französischen Behörden nach 1945 wurde Henripierre mit einer Ausnahme, wo er als „Préparateur“ bezeichnet wird, durchgehend als „garçon de l’Institut d’Anatomie“ geführt.[33] Es bliebe zu diskutieren, woher Champy wusste, dass beinahe alle Angehörigen von Hirts Institut auf der Gehaltsliste der SS standen und weshalb diese Erkenntnis ansonsten kaum Eingang in die Untersuchungen fand.

Henripierres Kollege René Colombin Wagner gab am 17.11.1946 eine Eidesstattliche Versicherung über die Vorgänge in der Anatomie in Straßburg ab. Dabei belastete er hauptsächlich Sievers und Hirt. Er nannte viele Details der Versuche von Hirt, Bickenbach und Haagen. Allerdings gab er ausdrücklich als belastendes Faktum zu Protokoll, dass Hirts Mitarbeiterinnen Bennemann und Schmitt „direkt vom Persönlichen Stab Reichsführer-SS, Verwaltung Berlin, bezahlt“ worden seien.[34] Dieses Detail zeigt, als wie belastend der Geldempfang vom Persönlichen Stab Reichführer-SS kurz nach Kriegsende betrachtet wurde. Henripierre hatte also individuelle und von jenen der anderen Zeugen abweichende Gründe, in seinen Aussagen von sich abzulenken, indem er Hirt belastete und sich als ein Opfer der Verhältnisse präsentierte. Henripierre hielt diese Darstellung bei allen Vernehmungen bis zu seinem Tod am 14.5.1982 aufrecht.[35]

Hernipierre – Zeuge oder Täter?

Henri Henripierre ist – betrachtet man den tatsächlichen Ablauf des Verbrechens und seinen Lebensweg – keinesfalls der neutrale Zeuge, als der er heute in der Literatur häufig gesehen wird.[36] Dies sollte dafür sensibilisieren, dass sowohl Täter als auch Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen aus Gründen von Traumatisierung, Kalkül oder einer undifferenzierten psychologischen Melange nicht von vornherein als neutrale Zeugen betrachtet werden dürfen, die Ereignisse mit der Schärfe einer Dokumentarfilmkamera wiedergeben können. Die Subjektivität im Sinne Kants, die bei jeder Zeugenaussage vor Gericht als selbstverständlich gilt, darf bei nationalsozialistischen Verbrechen nicht in Abrede gestellt werden. Das Strafrecht und die historische Darstellung dürfen sich keinesfalls der Maßstäbe der Moral im Sinne Hannah Arendts bedienen.[37]

Für die Bewertung der ermittelten Ereignisse sind diese Maßstäbe der Moral jedoch zwingende Grundlage, auch um aus diesen Ereignissen zu lernen. Es bedarf keines sehr ausgeprägten Wertesystems, um am Ende dieses Buches Hirt, Sievers und Beger gleichermaßen als Verbrecher zu qualifizieren. Es bleibt jedoch offen, wie die Rolle von Menschen einzuschätzen ist, die keinen großen Vorteil aus dem Verbrechen der Skelettsammlung zogen, aber dennoch freiwillig – und teilweise sehr eifrig – für das Verbrechen oder die Verbrecher tätig wurden, beispielsweise Wolff, Bong, Seepe oder Henripierre. Hannah Arendt urteilte:

„Das Nazi-Regime […] hat darüber hinaus den Beweis erbracht, dass niemand ein überzeugter Nazi sein musste, um sich anzupassen […]. Es […] wird fast immer übersehen, daß das, was moralisch wirklich zur Debatte steht, nicht beim Verhalten von Nazis, sondern bei denjenigen auftrat, die sich nur ,gleichschalteten‘ und nicht aus Überzeugung handelten.“[38]

Quellen:

[1] Da dieser sich selbst sowohl Henripierre als auch Henrypierre schrieb, laut Geburtsurkunde Henrypierre hieß und nach dem Kriege in Frankreich und Deutschland behördlich als Henripierre geführt wurde, ist die Entscheidung getroffen worden, ihn hier durchgehend als Henripierre zu bezeichnen.

[2] Archiv Mairie Lièpvre, Geburtsurkunde Nr. 36 vom 24.8.1905 mit Folgeeintragungen.

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] Archiv Mairie Lièpvre, Geburtsurkunde Nr. 36 vom 24.8.1905 mit Folgeeintragungen.

[6] Ebbinghaus/Dörner/Linne u.a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 752 ff.

[7] BArch R 9361 IV-751, Umsiedlungsantrag Henripierre vom 17.7.1941, S. 2.

[8] Ebd., S. 3.

[9] Ebd., S. 4.

[10] Ebd., Einbürgerungsbewilligung vom 10.9.1941.

[11] Ebbinghaus/Dörner/Linne u.a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 752 ff.

[12] Zu den Germanisierungsmaßnahmen vgl.: Stiller, Alexa: Germanisierung und Gewalt. Nationalsozialistische Volkstumspolitik in den polnischen, französischen und slowenischen Annexionsgebieten, 1939−1945, Diss. Univ. Bern 2015.

[13] Archiv Mairie Lièpvre, Geburtsurkunde Nr. 36 vom 24.8.1905 mit Folgeeintragungen.

[14] Ebd., Schreiben von Deutschmann an Persönlichen Stab vom 1.2.1945.

[15] Ebd., Schreiben von Deutschmann an Persönlichen Stab vom 21.12.1944; vgl. BArch NS 21/908: Dort ist das Schreiben ebenfalls erhalten.

[16] Ebd., Schreiben von Deutschmann an Persönlichen Stab vom 19.2.1945.

[17] SS-Standartenführer Prof. Dr. Hans Brand war Leiter der Karstwehrwissenschaftlichen Abteilung des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, SS-Untersturmführer Dipl.-Mathematiker Karl-Heinz Boseck Leiter der Mathematischen Abteilung und SS-Hauptsturmführer Dr. habil. Kurt Plötner Leiter der Abteilung P. Alle anderen Mitarbeiter waren bei der Abteilung H beschäftigt. Vgl. Reitzenstein, Himmlers Forscher.

[18] Vgl. Kettenacker, Lothar: Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsass, Stuttgart 1973.

[19] Lang, Nummern, S. 198.

[20] BArch B 162/20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade, S. 1 ff.

[21] BArch B 162/20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade, S. 9.

[22] USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020, Ermittlungsakte, Eintrag vom 23.12.1944, S. 258 f.

[23] BArch R 4901/12877, Schnellbrief vom Auswärtigen Amt an REM vom 6.1.1945.

[24] Archiv Mairie 18. Arrondissement von Paris, Heiratsurkunde Henripierre mit Scheidungsvermerk vom 22.8.1946.

[25] Ebbinghaus/Dörner/Linne u.a. (Hrsg.), Nürnberger Ärzteprozeß, Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 752.

[26] Ebd., Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 753.

[27] Ebd., Aussage Henripierre vom 18.12.1946, S. 756. Vgl.: BArch B 162/20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade vom 15.1.1946, S. 70: Henripierre hatte den Rechtsmedizinern diese Drohung Hirts auch bereits zu Protokoll gegeben.

[28] HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Schreiben von Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main an Tribunal Grande Instance de Strasbourg vom 20.4.1967, S. 448.

[29] HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34148 Prozessakte Beger, Schreiben von Tribunal Grande Instance de Strasbourg an Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main vom 11.5.1967, S. 446.

[30] NARA T-580 Roll 462/463, Diensttagebuch Sievers, Eintrag vom 2.4.1942. In der Literatur findet sich häufig die Angabe, dass das Ahnenerbe „im April 1942“ zum Amt A wurde; vgl. Kater, Ahnenerbe, S. 302.

[31] HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34160 Prozessakte Beger, S. 67 ff.

[32] BArch B 162/20260, Rapport d’Expertise de MM. les professeurs et docteurs Simonin, Piédelièvre, Fourcade vom 15.1.1946, S. 9.

[33] USHMM RG-43.050M (Acc. 1997.A.0197) AL 150 P13, Dossier 2020.

[34] HStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 34160 Prozessakte Beger, Eidesstattliche Versicherung Wagner vom 17.11.1946, S. 132.

[35] Archiv Mairie Lièpvre, Geburtsurkunde Nr. 36 vom 24.8.1905 mit Folgeeintragungen.

[36] E-Mail-Auskunft von Raphael Toledano an den Verfasser vom 28.1.2013.

[37] Arendt, Über das Böse, S. 7–45.

[38] Ebd., S. 16 f.