Fritz Bauers letzter Fall
Dieses Buch erzählt die Geschichte eines der seit den Nürnberger Prozessen bekanntesten NS-Verbrechen: 86 jüdische Frauen und Männer werden ermordet, um aus ihren Leichen Skelette für ein neues Museum zu fertigen. Die sterblichen Überreste sollen dort einem staunenden Publikum als Beweis für die rassische Minderwertigkeit der Juden dienen. Als Auftraggeber und Museumschef wird August Hirt genannt, Direktor der Anatomie in Straßburg. Sein im ersten Weltkrieg entstelltes Gesicht wird die Fratze der verbrecherischen NS-Medizin. Als das Museumsprojekt nach dem Krieg öffentlich wird, erschießt sich Hirt.
So findet man das Verbrechen in den Geschichtsbüchern verzeichnet.
Nur ein Mann hatte Zweifel am überlieferten Motiv und dem Tatablauf: Der legendäre hessische Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer – der gegen alle Widerstände die Auschwitz-Prozesse durchsetzte und auch bei der Ergreifung Adolf Eichmanns eine wichtige Rolle spielte. 1965 klagte er einen bis dahin als Freund des Dalai Lama bekannten „guten Deutschen“ an – und starb kurz darauf unter unklaren Umständen.
Bauers Prozess verlief im Sande und der Angeklagte Dr. Bruno Beger saß nicht einen Tag für dieses monströse Verbrechen im Gefängnis. „Fritz Bauers letzter Fall“ erzählt nun die wahre Geschichte des Verbrechens. Erzählt wird die Geschichte des Anthropologen Bruno Beger, der seit 1934 als Rassegutachter für die SS arbeitet und 1938 schlagartig bekannt wird als einer von fünf Teilnehmern der ersten deutschen Expedition nach Tibet.
Im Gepäck hat er Immanuel Kant und andere Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts – und deren Gewissheit, dass der Ursprung der europäischen Menschen in Tibet liegt. Nachdem er diese Theorie vor Ort bestätigt wähnt, hat er die Vision einer großen wissenschaftlichen Karriere. An der neuen Elite-Uni, der Reichsuniversität Straßburg ist der Lehrstuhl für Anthropologie noch nicht besetzt. Beger beabsichtigt, sich mit einem so aufsehenerregenden Projekt zu habilitieren, dass ihm der Lehrstuhl gar nicht verweigert werden kann. Er plant eine Rassekarte von Europa, auf der die Wanderungsbewegungen der verschiedenen Ethnien über die Jahrtausende verzeichnet sind.
SS-Mann Beger gewinnt den Wissenschaftschef der SS und seinen Förderer Himmler für die bis dahin größte deutsche Wissenschaftsexpedition. Mit über 150 Mann plant er die „rassische Totalerforschung des Kaukasus“. Dabei will er – wie damals üblich – die Köpfe der Menschen vor Ort abformen, um daraus ein Positiv herzustellen. Anschließend will er die Köpfe abschneiden, skelettieren und jeweils den abgeformten Kopf des Lebenden mit dessen Schädel vergleichend untersuchen. Schon sind Skalpelle, Knochenpräpariermaschinen und Personal bereitgestellt, da fällt Stalingrad. Der Kaukasus, die Landbrücke zwischen Tibet, Inner- und Vorderasien ist für Deutschland und für das beabsichtigte Verbrechen verloren.
In diesen Wochen erhält Beger ein Schreiben von Adolf Eichmann: Gerade jetzt sei in Auschwitz eine größere Menge für Beger besonders interessantes Material vorhanden: 10.000 sowjetische Kriegsgefangene. In der Roten Armee dienten Soldaten aus allen Sowjetrepubliken – also auch aus Tadschikistan, Usbekistan, Kirgisien und all den anderen Landstrichen, die Beger bei der Kaukasusexpedition „rassisch totalerforschen“ wollte. Beger muss also gar nicht mehr in den Kaukasus – die Opfer werden ihm von der SS „frei Haus“ geliefert.
Doch als Beger – sich kurz vor seinem wissenschaftlichen Durchbruch wähnend – in Auschwitz eintrifft, findet er nur vier Inner- und Vorderasiaten. Sein Projekt droht endgültig zu scheitern. Da hatte er eine rettende Idee – und er steigt kurzfristig auf die Erforschung der jüdischen Rasse um, wählt 115 Menschen aus und beginnt mit Vermessungen, lässt die ersten Köpfe abschneiden und an sein Büro senden.
Als im KZ eine Fleckfieberepidemie ausbricht, reist Beger rasch ab. Die noch übrigen 89 Juden kommen in Quarantäne. Beger organisiert die Fortführung seines Projektes über den Wissenschaftschef der SS, Wolfram Sievers. Dieser setzt einen der Abteilungsleiter seines Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung unter Druck, aus Kameradschaft mitzuhelfen, Begers Projekt zu unterstützen: Den Anatomen August Hirt an der Uni Straßburg. Hirt unterhält eine Forschungsstation im KZ Natzweiler bei Straßburg. Dorthin werden jene 86 Juden deportiert, die die Quarantäne in Auschwitz überlebt haben. Beger eilt nach Natzweiler. Hastig wird aus einem Kühlraum eine Gaskammer gezimmert. Die 86 Männer und Frauen werden vergast und – mit Hirts Einverständnis – in die Anatomie nach Straßburg gebracht. Doch zu den Vermessungen kommt es nicht mehr, weil der Geisteswissenschaftler Beger die Leichen so falsch präparieren ließ, dass sie anthropologisch wertlos waren und auch eine Skelettfertigung unmöglich.
Als die Alliierten kurz vor Straßburg stehen, vernichtet ein Mitarbeiter Begers die meisten der Leichen – und zeigt vor den einrückenden Franzosen ein irrwitziges, aber frei erfundenes Verbrechen an, bei dem er Hirt eines Museumplans beschuldigt. Seine Geschichte steht bald in den Zeitungen in aller Welt.
Zwanzig Jahre bleibt die Rolle des Urhebers und prospektiven Nutznießers des Verbrechens, Bruno Beger, unbeachtet. Dann unterschreibt Fritz Bauer die Anklage, stirbt und Beger wird lediglich wegen Beihilfe verurteilt. Die ihm sehr gewogene Kammer sorgt dafür, dass er nicht einen Tag in Haft muss.
Beinahe allein auf Grundlage originaler Dokumente und Beweise wird ein historisches Verbrechen rekonstruiert. Es wird gezeigt, wie geschickt das Verbrechen, sein Motiv und sein Urheber verschleiert wurden. Vor allem aber wird das klandestine Vorgehen enttarnt, mit dem die Nazi-Verbrecher sich nach dem Kriege gegenseitig decken. Vor allem aber wird gezeigt, dass der Zeuge, der als „Resistance-Kämpfer“ das Verbrechen eines Rasse-Museums angezeigt und im Nürnberger Prozess detailliert beschrieben hatte, in Wahrheit unter anderem Namen von der SS bezahlt Mittäter war. Die von ihm erfundene Geschichte eines Museums mit „toten Juden“ in Straßburg schützte ihn und machte ihn in der Öffentlichkeit bis zu seinem Tode und darüber hinaus zu einem tapferen Aufklärer eines monströsen Verbrechens.
Und nach 70 Jahren wird nun das Verbrechen nach rechtsstaatlichen Maßstäben bewertet und der freundliche Tibetologe und Dalai-Lama-Freund Beger wird als das enttarnt, was er wirklich war: Ein Rassist von erheblich monströseren Ausmaßen als der Mediziner und Kriegsverbrecher Hirt, der ihn unterstützte. Ein geltungssüchtiger und schwacher Geisteswissenschaftler in der Uniform eines starken SS-Übermenschen, der zu feige war, ein Missgeschick zu beichten und stattdessen 115 Unschuldige ermorden ließ.