Vorwort zur zweiten Auflage
Als die Recherchen zu diesem Buch im Jahr 2010 begannen, war nicht abzusehen, auf welche ungewöhnlichen Wege die Forschungsarbeiten führen und welche Ergebnisse dadurch zu Tage treten würden. Zunächst einmal ging es darum, für eine wissenschaftliche Fragestellung zu recherchieren, die zu dem Buch „Himmlers Forscher“ führen sollte. Im Mittelpunkt dieser Forschungen stand das „Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung“, eine Einrichtung der Waffen-SS, eng verbunden mit der SS-Wissenschaftseinrichtung „Ahnenerbe“. Einer der Abteilungsleiter dieses Instituts war der Anatom und SS-Sturmbannführer August Hirt. Dieser war in ein Verbrechen verwickelt, das als „Straßburger Schädelsammlung“ bekannt ist. Seine Schuld als Urheber und Nutznießer des Verbrechens schien seit dem Nürnberger Ärzteprozess erwiesen. Dort sagten der angeklagte Geschäftsführer des „Ahnenerbe“ und Direktor des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, Wolfram Sievers, und der Zeuge der Anklage, Henri Henripierre, übereinstimmend aus, August Hirt habe ein Museum geplant, worin er Skelette ermordeter Juden ausstellen wolle. Als Motiv wurde Propagierung der nationalsozialistischen Rassenlehre angenommen.
Michael H. Kater wies in seinem vor einigen Jahrzehnten erschienenen und Maßstäbe setzenden Werk zum Ahnenerbe darauf hin, dass dies nicht stichhaltig sei. Ebenso zweifelte die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Hessen unter ihrem Leiter Fritz Bauer am Wahrheitsgehalt dieser Darstellung. Mit viel Engagement gelang es Bauer, dass über die Verbrechen des NS-Regimes eine breite öffentliche Debatte geführt wurde. Beispielsweise fanden dank seines beharrlichen Einsatzes die Auschwitz-Prozesse statt. Bei der Ergreifung Adolf Eichmanns, des Mitorganisators der Deportation von Millionen europäischer Juden in die Vernichtungslager, hatte Bauer ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt.
Bauer und seine Staatsanwälte vermuteten wie Kater, dass der Anthropologe und frühere SS-Hauptsturmführer Bruno Beger eine viel größere Rolle bei der Straßburger Schädelsammlung spielte, als es die Vernehmungen im Zuge der Nürnberger Prozesse nahelegten. Nach umfangreichen Ermittlungen unterzeichnete Bauer die Anklageschrift gegen Bruno Beger und weitere Tatbeteiligte – seine wohl letzte Anklage gegen einen NS-Täter. Diese datiert, möglicherweise zufällig, auf den 8. Mai 1968, genau 23 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wenige Wochen später starb Fritz Bauer. Bruno Beger und das Verbrechen der Straßburger Schädelsammlung war somit praktisch Fritz Bauers letzter Fall.
Bruno Beger war nicht Angehöriger des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, weshalb die Straßburger Schädelsammlung und Beger selbst in der Forschungsliteratur über diese Einrichtung nur am Rande erwähnt werden. Es blieben viele offene Fragen. Im Zuge der Recherchen für das Buch „Himmlers Forscher“ nahmen die offenen Fragen von Archivbesuch zu Archivbesuch immer mehr zu und die tradierte Darstellung des Verbrechens, seines Ablaufs und seines Motivs erschien immer unplausibler. Das legte es nahe, Fritz Bauers letzten Fall im Spiegel der neuen Quellenerkenntnisse aufzuklären, abzuschließen und die offenen Fragen zu beantworten.
Aus diesen Gründen entstand ab dem Jahre 2011 dieses Buch. Es befasst sich nicht mit der Persönlichkeit Fritz Bauers, sondern geht ausschließlich dem letzten von ihm angeklagten Verbrechen nach. Das Ziel dieses Buches lautete, die neuen Erkenntnisse so zu verdichten, dass die Täter, würden sie heute vor Gericht gestellt, verurteilt werden könnten. Die notwendigen Recherchen führten in zahlreiche Archive. Parallel zur geschichtswissenschaftlichen Arbeit mussten unter anderem die Erkenntnisse der Kriminologie, der Aussagepsychologie, der Biochemie, der Medizin und des Rechts einbezogen werden, um die Quellenfunde einzuordnen und zu bewerten. Es ist naheliegend, dass ein Historiker eher selten Skelette präpariert und daher etwa den Zusammenhang zwischen Formol und Ameisensäure nicht sofort erkennt. Forensische Geschichtswissenschaft, die Kombination aus Rechtswissenschaften, Rechtsmedizin, Geschichtswissenschaft und weiterer Disziplinen, arbeitet mit einem transdisziplinärem Ansatz. Insoweit verdankt dieses Buch viele Aspekte dem Fachwissen zahlreicher Spezialisten, deren Expertise an den entsprechenden Stellen benötigt wurde.
Dieses Buch fügt Quellen und Fakten, Meinungen und Interpretationen zu einem neuen Bild zusammen. Ermittelnde Staatsanwälte müssen von der Existenz eines Verbrechens und der Schuld eines ermittelten Täters überzeugt sein. Dann klagen sie an und versuchen, durch Interpretation der vorgelegten Fakten ein unvoreingenommenes Gericht vom Tathergang und dem schuldhaften Handeln der Täter zu überzeugen.
Insofern versteht sich dieses Buch auch als Erhärtung des Verdachts der letzten Anklageschrift Fritz Bauers. Es versetzt den Leser in die Lage, sich selbst ein Urteil zu bilden. Er wird praktisch zur Revisionsinstanz, die auf Grundlage der im Buch vorgelegten neuen Dokumente entscheidet, ob es sich bei der Verurteilung Begers Anfang der 1970er Jahre um ein Fehlurteil handelt oder nicht.
Im Verlaufe der Darstellung wird sich zeigen, dass seit Kriegsende Generationen von Historikern ein Bild vom Verbrechen Straßburger Schädelsammlung gezeichnet haben, das nicht den tatsächlichen Ereignissen entspricht, die die Quellen in ihrer Gesamtheit nahelegen. Es wird sich zeigen, dass zwar der Angeklagte und der Zeuge der Anklage Ähnliches aussagten. Doch offenbar wurde nie seit dem Nürnberger Ärzteprozess der Hintergrund des Zeugen vertieft überprüft. Um die Glaubwürdigkeit eines Zeugen und die Glaubhaftigkeit seiner Aussage zu prüfen, ist es jedoch wichtig zu erforschen, ob Interessenkonflikte vorliegen oder er gar eigene Interessen verfolgt.
Dieses Buch trägt zur Aufklärung eines Verbrechens bei, das vor mehr als 75 Jahren begangen wurde. Es soll aber auch deutlich machen, dass die seit mehr als sieben Jahrzehnten andauernde Zeit von Frieden, Rechtsstaat und Demokratie in Europa keine Selbstverständlichkeit ist, sondern ein Glück. Es soll unterstreichen, dass der Nationalsozialismus und die Shoah Verbrechen waren, die mit nichts verglichen werden können und sollen. Bei aller Aufregung über die aktuelle politische Entwicklung in Deutschland und Europa soll das Buch mit Blick auf die Lebenswirklichkeit zum Zeitpunkt des Verbrechens der Straßburger Schädelsammlung klar machen, in welch glücklichen Zeiten wir heute leben dürfen.
Schon kurz nach seiner Vorstellung wurde das Buch besprochen. (…) Erfreulicherweise waren sämtliche bis zur Fertigstellung der zweiten Auflage in seriösen Medien erschienenen Rezensionen durchweg positiv. Die Reaktionen des Publikums auf den zahlreich folgenden Lesungen und Vorstellungen der Forschungsergebnisse waren nicht nur ebenfalls erfreulich – sie hatten stets eine Schnittmenge: Die Nachfahren der Opfer haben Anspruch auf historische Wahrheit.
Diese Wahrheit ist jedoch offenkundig für einige Menschen ein Ärgernis, für andere eine Provokation. Ein Vorwort für eine zweite Auflage ist nicht der Ort, auf Drohbriefe und Hassmails einzugehen. Gleiches gilt für Polemiken. Für diese und deren Autoren gilt der Satz von Michelle Obama „When they go low, we go high“. Entgegen dieser guten Devise gab es von verschiedenen Seiten ein Drängen, das ebenfalls seine Berechtigung hat. Dabei geht es um jene Kritik, die getarnt als wissenschaftliche Bewertung geeignet ist, Leser zu täuschen und das Narrativ von NS-Kriegsverbrechern auch noch im 21. Jahrhundert aufrecht zu erhalten. Nachfolgend ist zu zeigen, mit welchen Methoden versucht wurde, die neuen Erkenntnisse zu marginalisieren.
Sven Felix Kellerhoff wies in seiner Besprechung auf „wüste Kritiken“ hin. Diese Textstelle verlinkt in der Online-Ausgabe der WELT auf eine Website von Hans-Joachim Lang. Dort findet sich der Menüpunkt „Forschung“, unter dem zwei Polemiken gegen das vorliegende Buch online gestellt sind. Diese enthielten einige berechtigte Monita; beispielsweise hatte sich beim Datum der Anklageschrift ein Tippfehler fortgesetzt. Aus dem Zusammenhang war jedoch zu erkennen, dass es 1968 hätte heißen müssen. Auch deshalb finden sich in dieser zweiten Auflage einige wenige Korrekturen.
Der Germanist Hans-Joachim Lang hatte im Jahre 2004 das Buch „Die Namen der Nummern“ veröffentlicht. Darin holt er 86 Opfer von Bruno Beger, August Hirt und Wolfram Sievers aus der Anonymität. Die Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden ist so gewaltig, dass sie nur schwer fühlbar ist. Das Einzelschicksal hingegen ist fühlbar und das macht – wie auch schon in der ersten Auflage mehrfach und ausführlich gewürdigt – den menschlichen Ansatz des Buches von Lang aus, der jeden Respekt verdient. Jedoch schilderte Lang auch die Geschichte des Verbrechens selbst. Dabei wiederholte er jedoch jene Version, die Henripierre und Sievers vor dem Nürnberger Gericht erzählten. Da diese Geschichte in weiten Teilen nicht den Tatsachen entsprach, konnte Lang naturgemäß viele Passagen nicht belegen. Lang beschreibt Hirt in drastischen Bildern als fanatischen Rassisten, der „ein Museum mit toten Juden als Exponaten“ für seine Anatomie angestrebt habe.
Ohne Zweifel hat Hirt tatsächlich schlimme Verbrechen begangen. Diese sind im Buch auch ausführlich dargestellt worden. Problematisch ist es aber, ihm Untaten anzudichten, die frei erfunden sind. Dies ist nicht nur respektlos gegenüber den Opfern und deren Anspruch auf historische Wahrheit. Dies ist zudem gefährlich in Zeiten, in denen die Anzahl der Apologeten und Relativierer des Nationalsozialismus in beängstigender Weise zunimmt. Wenn ein von renommierten Einrichtungen im guten Glauben an seriöse Quellenarbeit ausgezeichnetes Buch Erfindungen als historische Ereignisse vermittelt, ist das Wasser auf die Mühlen der Holocaust-Relativierer, aber auch jener, die die Verbrechen des „Tausendjährigen Reiches“ zum „Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ erklären.
Hans-Joachim Lang war jahrzehntelang Redakteur des Schwäbischen Tagblatts. Seine einfühlsamen Schilderungen des Schicksals der 86 Opfer haben sich in vielen Ländern gut verkauft, was für ein Sachbuch ein bemerkenswerter Erfolg ist. Allerdings ist „Die Namen der Nummern“ ein Sachbuch, eine wissenschaftliche Studie ist es nicht. Man muss deshalb von Lang keine Quellenkritik in wissenschaftlicher Tiefe erwarten. Was man von einem Sachbuchautor jedoch erwarten kann ist, sich mit neuen Erkenntnissen und Kritik professionell auseinanderzusetzen.
Die neuen Erkenntnisse der ersten Auflage des vorliegenden Buches erweitern unser Wissen über das Verbrechen der Straßburger Schädelsammlung. Lang jedoch reagierte mit Polemik, Beschimpfungen und jenem Vorgehen, die sein Buch belasten: Er täuscht seine Leser durch manipuliert wiedergegebene Quellen. Damit stützt er nicht nur seine Thesen, sondern auch das Narrativ des verurteilten Kriegsverbrechers Wolfram Sievers und des SS-Kollaborateurs Henri Henripierre. Beispielsweise behauptet er, August Hirt habe 1942 einen Vertrag mit der Leitung des Lagers in Mutzig bei Straßburg geschlossen. Gegenstand des Vertrages sei gewesen, dass er gegen eine kleine Spende in die Mannschaftskasse von zehn Reichsmark Leichen von im Lager verstorbenen Kriegsgefangenen beziehen konnte. Dazu verweist Lang auf eine Quelle. Doch es handelt es sich nicht um den Vertrag, den Hirt nach Lang mit dem die Leichen verkaufenden Lager geschlossen haben soll. Darum kann es sich bei der Quelle auch nicht handeln, denn einen solchen Vertrag hat es nie gegeben – schon weil es 1940 bis 1944 in Mutzig bei Straßburg nie ein Lager gab, das ein solches Geschäft mit Leichen hätte machen können.
Vielmehr handelt es sich bei Langs Beleg um ein Schreiben von Hirt an Sievers. Darin findet sich weder das Wort Vertrag noch geht es um Mutzig. Hirt berichtet Sievers in dem Brief, dass er Leichen aus dem KZ Natzweiler beziehe. Dieses bekam nach einem Provisorium erst im Herbst 1943 eine Krematoriumsbaracke; bis dahin wurden die Leichen in Straßburg eingeäschert. Die Route zum dortigen Krematorium führte an der Anatomie vorbei. Die Wachmannschaften brachten die Leichen in die Anatomie und Hirt belohnte diesen Service mit zehn Reichsmark in die Mannschaftskasse. Schließlich sparte er sich die Kosten für die Abholung im KZ Natzweiler. Diese Kosten meldete er Sievers in dem Brief, der laut Lang hingegen ein Vertragsverhältnis mit einem Lager in Mutzig über den Kauf von Leichen von Kriegsgefangenen belegen soll. Es scheint beinahe unglaublich, dass ein erfahrener Journalist wie Hans-Joachim Lang Quellen derart unzutreffend wiedergibt. Darum wurde in der ersten Auflage des Buches die Quelle abgedruckt, damit der Leser sich selbst ein Bild machen kann.
Sollte man in wissenschaftlichen Monographien Fehler und manipuliert widergegebene Quellen mit jener Form von Spott und Häme im Text thematisieren, wie sie Hans-Joachim Lang in seinen Attacken verwendet? Wohl eher nicht. Deshalb wurden diese Punkte, wo immer es möglich war, möglichst dezent in die Fußnoten der ersten Auflage verbannt. Ein Diskurs zu diesem Sachverhalt muss zum Ziel haben, den Anspruch der Öffentlichkeit und der Nachfahren der Opfer auf historische Wahrheit einzulösen. Gleichzeitig ist jedoch geboten, all jenen Autoren, die sich auf die Seriösität von Langs Forschungen verlassen haben, die Gelegenheit zu geben, sich ein eigenes Bild – auch und gerade durch Präsentation neuer Quellen – zu machen.
Nach vielen Jahren Forschung zu einem derart monströsen Verbrechen, nach immer neuer Konfrontation mit menschlichen Abgründen, Grausamkeiten und Leid war ich dankbar, als das Buch abgeschlossen war. Es war damals nicht abzusehen, wie groß die positive Resonanz ausfallen würde. Dies führt dazu, dass Vorträge zu den neuen Forschungsergebnissen nach wie vor gefragt sind. Insofern ist ein Abschluss noch nicht gegeben. Ebenso war damals nicht abzusehen, dass Hans-Joachim Lang statt Diskurs und Dialog den beschriebenen Weg wählen würde. Dieser hält das Buch und seine Inhalte im medialen Interesse. Und schließlich ist es erfreulich, wenn eine wissenschaftliche Monographie nach noch nicht einmal einem Jahr eine zweite Auflage erhalten soll. All dies hat dazu geführt, dass das Thema auch international Aufmerksamkeit erfährt, sowohl filmisch als auch als Sachbuch. Was mit dem Erscheinen des Buches im Jahre 2018 abgeschlossen schien, hat also zwischenzeitlich ein bemerkenswertes Eigenleben entwickelt, das zu Beginn der Forschungen nicht absehbar war.
Eine Nichtbeachtung der im Buch präsentierten neuen Quellen und Schlussfolgerungen wird kaum möglich sein. Es wäre unprofessionell, das Narrativ des Kriegsverbrechers Sievers und des SS-Kollaborateurs Henripierre weiter zu stützen. Unzweifelhaft muss das Recht der Öffentlichkeit und der Nachfahren der Opfer auf faktenbasierte historische Wahrheit im Mittelpunkt stehen. Aber ebenso unzweifelhaft muss verhindert werden, dass die populistische Relativierung des nationalsozialistischen Regimes durch manipuliert wiedergegebene Quellen Nahrung findet – oder gar durch die Relativierung des mörderischen Rassismus von Bruno Beger.
Insoweit möge die zweite Auflage diesem Ziel dienen.
Co. Kerry, im Sommer 2019
Julien Reitzenstein